Rückschau auf die Ausstellung

Gegenwärtige Porträts aus der Vergangenheit
Julia Belot. Dir ins Gesicht geschrieben

von Georg Habs, Sprecher der AMS-Ausstellungsgruppe,
Wiesbaden am 19. Juni 2024.

Georg Habs:

„Von der Vernissage am 5. Mai bis zur Finissage am 16. Juni 2024 war der Andrang von Ausstellungs-Interessierten für AMS-Verhältnisse außergewöhnlich hoch.

Außer unserem Stammpublikum kamen viele Belot-Kennende und Kunstinteressierte sowie Menschen, die das Werbebanner mit dem Doppelbild der Künstlerin vor unfertigem Porträt neugierig gemacht hatte.

Unsere recht versteckt gelegene Stätte historischer Rückschau hat dank dieser besonderen Ausstellung ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit erlangt und das auch in Milieus, zu welchen wir sonst nur schwer Zugang gewinnen.

Die 12 intimen und zugleich mächtigen Porträtbilder von Julia Belot trafen in ihrer Gesamtheit in der AMS-Ausstellung erstmals aufeinander und verliehen mit ihrem Zusammenklang den drei kleinen Räumen eine großartige Atmosphäre der Eindringlichkeit.

Viele der Ausstellungsbesucherinnen und -besucher zeigten sich ergriffen, beglückt, nachdenklich – suchten das Gespräch über ihre Eindrücke, fragten nach dem Wieso, Weshalb, Warum der Ausstellung.

Manche betonten, die Porträtierten seien ihnen unheimlich nahegekommen – die Einsicht, dass die dargestellten Personen wirklich gelebt, gewirkt, gelitten haben, sei ihnen unter die Haut gegangen.

Diese Gespräche bestätigten, dass Julia Belot gelungen ist, was sie bei der Anfertigung ihrer Porträt-Serie im Sinn hatte: Die Erinnerung an Menschen mit jüdischen Wurzeln mit Leben zu erfüllen, mit Ölfarbe auf Leinwand festzuhalten, was sich ihr als inspirierender Wesenskern der Porträtierten aufgedrängt und erschlossen hatte.

Die abgebildeten Personen haben vor und während der NS-Zeit gelebt. Ein erheblicher Teil von ihnen hat überlebt.

Was es über sie zu wissen gibt, ist sorgsam dokumentiert, aber in der Ausstellung so zurückhaltend zur Darstellung gebracht, dass es nicht von der Betrachtung der Kunstwerke ablenkt.

Julia Belot hat bei Personen ihres künstlerischen Interesses kleinformatige Schwarz-Weiß-Fotos aus dem letzten Jahrhundert als Ausgangspunkt für erste Skizzen genutzt.

Sie hat Tatsachen über das Tun und Lassen von Personen ihres künstlerischen Interesses in Erfahrung gebracht und Zeugnisse der „Oral History“ zusammengetragen.

Wertvoll wurden diese Materialien für sie erst dann, wenn sie ihr eine Ahnung davon vermittelten, was diese Personen einst ausgemacht hatte, wie lebendig , wie stark und verletzlich sie einst waren.

Julia Belot stellte sich der Aufgabe, diese Ahnungen in Gewissheit zu verwandeln – sie für Bildbetrachtende fassbar zu machen.

Nicht das gesicherte Wissen um die Farbe von Iris, Kittel oder Kleid bestimmen ihr Bild von einer Person, sondern ihre Sehnsucht danach, die Substanz einer Person zur Darstellung zu bringen, Nähe herzustellen.

Bisweilen musste sie sich dabei von dem emanzipieren, was ihr ein alter Schnappschuss als scheinbare Bildwahrheit entgegenstellte.

Beispielsweise zeigte ein Foto von 1938 einen Dorfältesten aus den russischen Karpaten, der ihr künstlerisches Interesse geweckt hatte, mit grimmig herabgezogenen Mundwinkeln. Die schriftliche und mündliche Überlieferung schilderte diesen „Weisen“ aber als verständnisvollen Streitschlichter, der mit kluger Freundlichkeit beständig für die Rückkehr örtlichen Friedens zu sorgen verstand. Der Schnappschuss und die zugehörige Erzählung wollten einfach nicht zueinander passen.

Wir alle wissen: Nicht jedermann ist fotogen. Ein eingefangener Gesichtsausdruck kann ganz und gar untypisch sein.

Also nahm Julia Belot sich die Freiheit, auf ihrem Bild die Mundwinkel des Dorfältesten leicht anzuheben – und schon änderte sich der gesamte Gesichtsausdruck fundamental, selbst die Augen des alten Herrn begannen zu lächeln, das Bildwerk wurde dem gerecht, was als kollektive Wahrnehmung überliefert ist.

Mir scheint: Solch ein Eingriff ist zulässig, solange er nicht geleugnet wird. Mehr noch: Das offene Bekenntnis zu solch einem Eingriff kann zum notwendigen Diskurs über die Subjektivität fotografischer Dokumentation und die Objektivität künstlerischer Freiheit anstiften.

Das Wort „Ansichtssache“ verweist darauf, dass es unterschiedliche Ansichten einer Sache geben kann. In Hinsicht auf die Sachlage ist Faktentreue, in Hinsicht auf die Blickwinkel ist Standort-Transparenz geboten. Mir scheint: Solange diesen Geboten entsprochen wird, besteht keinerlei „Fake-News“-Gefahr, wird die Erinnerungsarbeit ihrer Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit durchaus gerecht.

Die Porträts von Julia Belot berücksichtigen all dies.

Sie verdichten historische Momentaufnahmen zu Ansichten menschlicher Grundhaltungen und zu Bildern unverwechselbarer Individualität.

Wenn man sich vor ihren Werken hin- und herbewegt, treten Schattierungen hervor und zurück, entsteht eine unaufdringliche Interaktion zwischen Betrachtetem und Betrachtenden – auch diese Verschränkung ist ein wesentliches Element der Vergegenwärtigung.

Julia Belot war während der Öffnungszeiten immer wieder in der Ausstellung vor Ort.

Sie hat Besucherinnen und Besuchern geduldig Auskunft über ihre Absichten, ihre Vorgehensweise erteilt. Sie hat klargestellt, was sie auf ihren Werken hinzugefügt und was sie weggelassen hat, um hervortreten zu lassen, was im Hier und Heute Bedeutung erlangen soll.

Julia Belots Arbeiten sind keine um sich selbst kreisende „L’art pour l’art“.

Ihr bildnerisches Schaffen wahrt seinen künstlerischen Eigenwert und folgt zugleich einer erinnerungspädagogischen Absicht.

Julia Belot eignet sich Geschichte an.

Julia Belot trägt andere über den tiefen Graben hinüber, der uns vom Vergangenen trennt. Julia Belot ist eine Brückenbauerin der Erinnerungsarbeit.

Das AMS dankt ihr für die Präsentation ihrer 13 Porträtgemälde.“