Den Anstoß zu diesem Bilderzyklus in den Jahren 2009 bis 2013 gab mir das Porträt von meinem Großvater. Ich habe ihn gemalt, lange nach seinem Tod, nachdem ich eine Fotografie von ihm in einer alten Pappschachtel entdeckt hatte. In dem Moment, als ich meinen Großvater auf dem Foto gesehen habe, so wie ich ihn selbst niemals erlebt habe, jung und an seinem Arbeitsplatz in Sankt Peterburg vor dem Krieg, begann ich mit diesem Projekt, ohne, dass es mir zu diesem Zeitpunkt schon gewesen wäre. Ich habe mich sehr in die Stimmung dieses Fotos versetzt, in diese Zeit versetzt, in diesen Menschen versetzt und ich meinte ihn da so aufgespürt zu haben, wie er einmal war, lange vor meiner Existenz.
Dann war da noch die jüdische Geschichte. Sie hat mich immer stark berührt. Es waren die individuellen menschlichen Schicksale, die mich sehr, sehr ergriffen haben. Wie meinen Großvater, so wollte ich auch andere Menschen aufspüren, verstehen, wie sie einmal waren, in einem Leben, das sie so lebten, wie wir es heute leben, vor unserer Zeit.
Ich suchte in Archiven und über private Kontakte nach alten Fotografien, die mich emotional berührten und welche eine Basis für meine künstlerische Arbeit bilden konnten. Mein Ziel war es, wie bei dem Porträt meines Großvaters von der ursprünglichen Schwarz-Weiß-Fotografie ausgehend, diese zu Entschlüsseln und in ein lebendiges, farbiges, großformatiges Gemälde in Öl auf Leinwand zu übersetzen. Dabei war die Fotovorlage mein Forschungsobjekt, das zu ergründende Rohmaterial. Später bei der Malerei war sie mir dann auch eine Erinnerungsstütze im Sinne einer vorbereitenden Skizze. Sofern ich auf die Biografien oder Erzählungen der Verwandten der Portraitierten zurückgreifen konnte, gaben diese mir Hinweise auf ihre Lebensumstände, ihr Wesen und ihren Charakter. Von anderen abgebildeten Personen existierte ausschließlich das Foto und ich habe dieses so umgesetzt, wie ich es bei meinen Betrachtungen verstanden habe. Das war ein gänzlich neuer, anderer Prozess, als ein Porträt „normal“ zu malen, anhand eines lebenden Modells, das mir seine Einstellungen, Ideen und Emotionen unmittelbar und auch über die Körpersprache mitteilt.
Jedes dieser von mir geschaffenen Gemälde ist eine Interpretation der im jeweiligen Foto eingefrorenen Wirklichkeit und stellt eine Annäherung an die Persönlichkeit des abgebildeten Menschen aus meinem Blickwinkel dar. Sie bleibt somit eine Fiktion. Man sagt, die Darstellung eines Menschen in einem Gemälde schaffe einen Stellvertreter. Sie verwandele eine reale Abwesenheit in eine fiktive Anwesenheit und beschreibe so für uns letztendlich auch den Verlust. Wenn mir dies gelungen ist, so freue ich mich.
Julia Belot